Johann Stephanowitz

Journalist

„Wie können Sie hier ohne Termin eintreten?“

Russische Botschaft Unter den Linden

Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine gibt es jeden Tag Proteste vor der russischen Botschaft in Berlin. Inzwischen gibt es schon Forderungen, den Straßenabschnitt vor der Botschaft nach dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu benennen. Tatsächlich war ich schon einmal in der Botschaft: Im Dezember vergangenen Jahres beantragte ich dort ein Visum für mein Auslandssemester in Moskau. Damals hatte ich auch diesen Bericht geschrieben, ihn aber nicht veröffentlicht, nachdem mich eine Freundin vor meiner Abreise eindringlich vor kritischen Berichten gewarnt hatte – aber nun, wo ich wieder in Berlin bin, spielt diese Vorsicht keine Rolle mehr. Im Nachhinein weiß ich auch, dass ich mein Visum trotz allem in einem Visazentrum hätte beantragen können. Aber das hätte mir wohl nicht diese interessante Erfahrung beschert:

Das erste Mal ein Visum in einer Botschaft beantragen

„Beantrage dein Visum bloß nicht bei der Botschaft“, hatten mich Freunde vor meinem Flug nach Russland gewarnt und mir Horrorgeschichten von stundenlangen Befragungen dort erzählt. Und eigentlich hatte ich auch vor ins russische Visazentrum zu gehen, beziehungsweise es über eine Visaagentur zu beantragen. Doch leider stand auf meiner Einladung groß „Посолство РФ в Федеративной Республике Германия“. Also doch in die Botschaft.

So komme ich dort an einem kalten Dezembertag an – leider aus Arbeitsgründen erst kurz vor der Schließzeit (das ist 13 Uhr!). Statt durch den pompösen Haupteingang des Botschaftsgebäudes Unter den Linden geht es durch einen kleinen Nebeneingang in der Glinkastraße. Zunächst durch einen Metalldetektor: „Was ist da drin?“, fragt mich ein Wachmann und deutet auf meinen Instrumentenkoffer. „Ein Instrument“, sage ich und zeige ihm mein Flügelhorn das ich an diesem Tag mithabe. Aber es stellt anscheinend keine Gefahr für die Sicherheit der Botschaft dar. „Do you have gloves?“, sagt der Mann und drückt mir ein paar viel zu enge Einweghandschuhe in die Hand die man anscheinend aus Corona-Gründen in der Botschaft tragen muss. Das wird hier sehr ernst genommen.

Während ich die Stufen in die erste Etage hochsteige überkommt mich ein komisches Gefühl. Es ist das erste Mal, das ich eine Botschaft aufsuchen muss, um ein Visum zu beantragen. Meine vorherigen Reisen waren entweder innerhalb der EU oder ich habe einfach am Flughafen einen Stempel in meinen Pass bekommen. Und irgendwie ist ja so eine Botschaft schon ein komisches Gebäude: Im Prinzip befinde ich mich ja jetzt auf russischen Territorium und das sogar buchstäblich. Denn bei der Errichtung des Botschaftsgebäudes Anfang der 50er-Jahren hatte man angeblich sogar Erde aus Russland herbeischaffen lassen.

Schließlich betrete ich den Schalterraum der Konsularabteilung und es kommt mir vor wie eine Zeitreise in die Sowjetunion oder zumindest wie ich mir diese vorstelle: Mamorne Böden und Wände, Kunstlederstühle, sowie Männer in Krawatten und Frauen in Kostümen hinter den Schaltern. Und fast alle reden nur russisch. Ich gehe zu Окна 2 wie mir der Wachmann gesagt hat. Vor mir steht noch ein älterer Mann, doch irgendwie scheint der Schalter gerade nicht besetzt zu sein. Ich betrachte die Einrichtung genauer: Ein schwarz-oranges Georgsband, eine kleine russische Flagge hinter dem Schalterglas und ein Putin-Bild an der Wand zeigen mir, was für eine Art von Menschen hier in der Botschaft arbeiten. Verwundert bin ich darüber nicht. Nachdem sich einige Zeit nichts tut fragt der ältere Herr vor mir beim Nachbarschalter: „Виза работает?“. Es erscheint ein junger, stämmiger Botschaftsmitarbeiter in violettem Hemd mit blauer Krawatte. Er gibt dem älteren Herrn seinen Reisepass mit dem darin befindlichen Visum. „Nochmal kontrollieren bitte“, sagt er. Doch es scheint alles in Ordnung zu sein und der Mann hat wohl das, wonach ich mich noch sehne. „Gute Reise dann“, sagt der Botschaftsmitarbeiter noch.

Die Sowjetunion lebt weiter: Architektonisches Detail aus der russischen Botschaft
(das ich bei meinem Besuch im Dezember freilich nicht gesehen habe).
Foto: Fridolin freudenfett (Peter Kuley)/commons.wikimedia.org

„Was sagen Sie denn eigentlich zur aktuellen politischen Situation?“

Dann bin ich dran: „Was wollen Sie hier?“, fragt mich der Botschaftsmitarbeiter. „Äh … Здраствуйте“, sage ich leise. „Ich wollte meine Visaunterlagen abgeben. Aber ich weiß jetzt gar nicht, ob ich einen Termin brauche oder nicht.“ Auf einem kleinen Schild auf der Glasscheibe, die uns beide trennt, steht, das man für die Beantragung von Visa zwingend einen Termin beantragen müsste. Doch das hatte ich auf der Webseite der Botschaft nicht gesehen. „Aber vielleicht können Sie das auch so annehmen“, frage ich nervös. „Wer hat Sie hier ohne Termin reingelassen?“, fragt der Mann in einer Tonlage, die wohl nicht klischeehafter russisch klingen könnte. „Äh, ich bin einfach so reingegangen“, sage ich. Es stimmt ja auch. „Einfach reingelassen?! Wie können Sie hier ohne Termin eintreten?“ Der Mann fragt nach meinem Namen und überprüft irgendetwas an seinem Computer. Dann bespricht er sich lange mit einem Kollegen der gerade vorbei läuft. Irgendwie verfluche ich gerade etwas die Idee in die Botschaft gegangen zu sein. Der Schweiß staut sich zusehends unter den engen Gummihandschuhen. Ich denke an alle möglichen gruseligen Szenarien. Erst vor ein paar Tagen soll ein Mitarbeiter der Botschaft aus dem Fenster gestürzt sein (oder ist er gestürzt worden?).

Der Mann kommt zurück und lässt sich von mir die Visaunterlagen geben. Ich habe sie richtig schön sortiert: Ganz oben mein Reisepass – er blättert ihn kurz durch und übersieht dabei hoffentlich meinen drei Jahre alten Einreisestempel aus der Ukraine. Dann der Visaantrag. „Der Visaantrag“, sage ich. Der Mann sieht sich ihn interessiert an und blättert weiter. „Die Krankenversicherung“, sage ich. Der Mann blättert weiter. Mein Einladungsschreiben von der HSE Moskau sieht er sich besonders sorgfältig an. In seinen Gesichtsausdruck lässt sich viel hinein interpretieren. Es folgen noch ungefähr 10 Seiten mit einem Abkommen meiner Uni in Berlin mit der HSE. Der Mann verschwindet kurz, als er zurückkommt sagt er: „Sie sind ein glücklicher Mann heute, weil sie zum Studium da sind, kostet ihr Visum nichts.“ Er drückt mir einen Zettel in die Hand und verweist mich zum Schalter Касса, wo ich mir eine Quittung holen soll. „Ich warte maximal 10 Minuten auf Sie.“ Doch an der Касса muss ich erst einmal ein wenig hin und her gehen um das Aufsehen der Mitarbeiterinnen zu erregen, die sich im Hintergrund ruhig unterhalten. Doch nach einem kurzen „Здраствуйте“ und „Спасибо“ habe ich schließlich meine Quittung.

Ich komme zurück und auf einmal scheint der Botschaftsmann fast unheimlich zutraulich zu sein. „Bevor ich ihren Visaantrag bearbeite, möchte ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen“, sagt er. „Sie sind also zum Studium in Russland“, sagt er und fragt nach meinen Reisedaten. „Und was genau studieren Sie?“

„Osteuropastudien, also hauptsächlich Soziologie und Politik.“

„Aha. Und wie stufen Sie ihr Sprachniveau ein?“

„Ja mein Russisch ist noch sehr rudimentär, ich lerne seit etwa zehn Monaten. Я мало говорю по-русски. Ich werde in Moskau auf Englisch studieren.

„In Moskau werden Sie mit Englisch gut zurechtkommen. Aber Sie sagten, sie studieren Politik und interessieren sie sich dafür. Was sagen Sie denn eigentlich zur aktuellen politischen Situation?“

„Jaaa … das ist sehr kompliziert mit Russland und Europa“, sage ich diplomatisch (oder bilde mir zumindest ein, es klinge so).

„Ja, es ist kompliziert“, pflichtet mir der Mann bei. „Aber Sie werden in Moskau viel Spaß haben. Das verspreche ich Ihnen“, sagt er einladend. Nach der politischen Frage eben, fühlt sich das so an, als hätte ich die russische Grenze schon überschritten. Der Botschaftsmann drückt mir einen kleinen Zettel in die Hand: „Kommen Sie am 30.12. um 9 Uhr vorbei, um ihren Pass abzuholen. Das ist der letzte Tag an dem wir aufhaben in diesem Jahr. Und schöne Weihnachtstage.“

„Ja, ihnen auch. Wobei Sie feiern ja erst im neuen Jahr“, lache ich. „До Звидания!“

Am Ausgang werfe ich die Gummihandschuhe in einem Mülleimer und bin froh, endlich aus diesem Botschaftsgebäude raus zu sein.

Proteste gegen den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine vor der Botschaft
Foto: Vysotsky/commons.wikimedia.org

Zwei Wochen später …

Am 30. Dezember bin ich schon um Viertel vor Neun vor dem Hintereingang in der Glinkastraße und trotzdem gibt es schon eine lange Schlange. Ein Mitarbeiter kontrolliert die Termine und sammelt die Pässe ein. „Ausweis!“, sagt er und lässt sich von mir meinen Personalausweis geben (mein Pass liegt ja in der Botschaft). Wieder Kontrolle – diesmal habe ich nur eine kleine Tasche dabei – und wieder in die engen Gummihandschuhe schlüpfen. Auch diesmal ist Окна 2 nicht besetzt, doch schnell kommt eine mittelalte Frau herbei. „Ich möchte gerne mein Visum abholen“, sage ich. „Warten Sie etwa 15 Minuten“, sagt sie und verschwindet. Ich setze mich auf einen Kunstlederstuhl in Sichtweite des Schalters. Nach 15 Minuten kommt ein junger Mann zurück (ebenfalls mit Krawatte) und ich denke schon, dass er meinen Pass in der Hand hat, doch das ist ein anderer. „Äh nein, das war ein Missverständnis“, sage ich. „Ich wollte nur mein Visum abholen und ihre Kollegin sagte, ich solle 15 Minuten warten.“ Doch kurz darauf überreicht mir der junge Botschaftsmitarbeiter meinen Reisepass mit dem eingeklebten Visum. „Bitte nochmal überprüfen“, sagt er. Es scheint alles korrekt zu sein, bis auf ein paar merkwürdige Vertipper in meinem Namen im maschinenlesbaren Teil des Visums. „Muss das so sein?“

„Das ist so in Ordnung.“

„Ok, спасибо.“

Ich verlasse die Botschaft endlich mit meinem Visum und einem Gefühl der Erleichterung, aber auch dem Unbehagen, wie es wohl an der Passkontrolle sein wird.

Nachtrag: Die Passkontrolle bei der Einreise verlief im Übrigen sehr zügig ohne weitere Fragen. Umso länger dauerte es dann interessanterweise bei der Ausreise, inklusive penibler Kontrolle von Pass und Visum.

Tage, die die Welt erschüttern

Auch das ist Russland: Die Prophet-Elias-Kirche von 1647 in der als Unesco-Welterbe Stadt Jaroslawl
Auch das ist Russland: Die Prophet-Elias-Kirche von 1647 in der Unesco-Welterbe-Stadt Jaroslawl

Es gibt Daten, da weiß man noch Jahrzehnte später, was man an diesem Tag gemacht hat und die eigenen Kinder fragen einen, wie man diese erlebt. Denn diese Daten sind historische Zäsuren. Der 24. Februar 2022 ist ein solcher Tag – vielleicht werden ihn künftige Historikerinnen und Historiker als Ende einer Epoche sehen.

Und deshalb ist der Titel dieses Posts auch angelehnt an ein Buch, dass viele Osteuropa-Interessierte wohl kennen. Im folgenden möchte ich schildern, wie ich den 24. Februar erlebt habe und was dies für mich bedeutet.

Der 24. Februar in Moskau

Im Nachhinein bin ich froh an diesem Tag etwas später aufgewacht zu sein als sonst – am Vorabend saß ich noch bis spät am Laptop. Denn als ich nach dem Aufwachen die Pushmeldungen auf dem Handy sehe bin ich natürlich hellwach und mir ist auf einmal schlecht. Erst einmal lesen was in der vergangenen Nacht passiert ist – und begreifen. Dann ins Bad wanken. Normalität versuchen. Schnell frühstücken, obwohl man keinen Appetit hat. Ich versuche das Handy aus der Hand zu legen und schaffe es nicht. Erste Nachrichten erreichen mich, wie die Lage in Moskau ist. Nun, was soll ich sagen? Hier fallen keine Bomben vom Himmel. Ich schaue nach draußen: Unten fahren die Menschen normal zur Arbeit. Doch ein Freund von mir hat sofort begriffen, wie die Lage ist und was nun auch in Russland drohen könnte. Er will mir Geld senden, falls meine Bankkarte gesperrt wird. „Auch dass dich keiner einkassiert“, schreibt er mir noch.

Die folgenden Stunden bestehen vor allem aus Doomscrolling. Eigentlich hatte ich mir einiges vorgenommen für den Tag. Ich wollte ein Exposé für eine Hausarbeit schreiben und muss noch einen Text für meinen Russisch-Kurs schreiben. Ich sage mir auch innerlich „the show must go on“ – doch angesichts der Nachrichten aus der Ukraine schaffe ich es nicht. Auch in den Chatgruppen der internationalen Studierenden geht es hoch her. Vor allem ein möglicher (und wie ich finde berechtigter!) Ausschluss Russlands aus dem Swift-Abkommen und seine möglichen Folgen werden debattiert. Die Frage ist, wie lange kann man jetzt noch in Russland bleiben? Und kann man das eigentlich noch ernsthaft erwägen? Einige wollen trotz allem Parties feiern – wer das kritisiert, wird mit Putin-Memes ausgelacht.

Ich schicke meinem russischen Freund Ilja das Bild Apotheose des Krieges von Wassili Wassiljewitsch Wereschtschagin. Wir hatten es wenige Wochen zuvor in der Tretjakow-Galerie gesehen, wo wir uns durch Zufall kennengelernt haben. Der Maler hatte dieses Gemälde „allen großen Eroberern der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ gewidmet. Ich denke auch an Ilja der wie viele junge Russinnen und Russen keinen Krieg will – ob er nun wie geplant in Deutschland studieren kann (ich hatte ihm wenige Tage zuvor die Bewerbung für ein DAAD-Stipendium gegengelesen) ist mehr als fraglich.

Am Nachmittag halte ich es nicht länger am Schreibtisch aus und fahre ins Stadtzentrum. Ich habe am Abend dort noch einen Uni-Kurs, aber ich fahre etwas früher los. Das Ziel ist der Rote Platz. Ich will spüren, wie sich Moskau in diesem Moment anfühlt. Wie die Stimmung in der Stadt ist. Ich empfinde es als „beklemmende Normalität“. Klar, das Leben geht weiter, die Menschen sitzen in Cafés, machen Selfies vor der Basilius-Kathedrale und haben Spaß. Doch es liegt eine ganz merkwürdige Stimmung in der Stadt. Auf jeden Fall ist die Polizeipräsenz deutlich höher, als sie sonst schon ist. Polizeiwagen fahren umher und machen Ansagen, die ich nicht verstehe, doch die Menschen um mich herum scheint es nicht zu interessieren. Auf dem Manege-Platz und vor dem Bolschoi-Theater stehen Dutzende Gefangenentransporter. Kurz darauf erreichen mich Nachrichten, die uns internationale Studierende warnen, am Abend ins Stadtzentrum zu gehen. Es soll Demonstrationen geben.

Im Uni-Kurs selbst (in dem es ironischerweise darum geht, warum Russland handelt, wie es handelt und ob es einen Russian path gibt) kann ich mich nicht wirklich konzentrieren, immer wieder bin ich von den Nachrichten aus der Ukraine aber auch aus Moskau abgelenkt. Und ja ich höre von draußen Menschen „Нет войне“ (Kein Krieg) rufen. Aber die Proteste haben sich wieder kurz darauf gelegt (oder wurden gelegt?), und ich komme sicher mit der Metro nach Hause. Dort sehe ich auf Instagram viele Stories von meinen russischen Freundinnen und Freunden die den Krieg verurteilen – auf die Straße trauen sie sich aber wegen der Repressionen nicht.

Von den Sowjets 1937 abgerissen und von 2004 bis 2010 wieder aufgebaut: Die Mariä-Entschlafens-Kathedrale in Jaroslawl. Im Vordergrund das Denkmal für die Opfer des "Großen Vaterländischen Krieges".
Von den Sowjets 1937 abgerissen und von 2004 bis 2010 wieder aufgebaut: Die Mariä-Entschlafens-Kathedrale in Jaroslawl. Im Vordergrund das Denkmal für die Opfer des „Großen Vaterländischen Krieges“.

Wie geht es jetzt weiter?

Am Freitag bin ich morgens auf einen schon länger geplanten Wochenendtrip in die rund 280 Kilometer nördlich von Moskau gelegene Stadt Jaroslawl gefahren. Am Sonntag ging es dann noch nach Rostow Weliki. Beides wunderbare historische Orte des sogenannten Goldenen Rings um Moskau, die ich jedem empfehlen würde, zu besuchen, wenn das irgendwann wieder möglich ist. Aber es ist schon merkwürdig: Am Bahnhof sehe ich eine Gruppe junger Soldaten mit schweren Gepäck – wer weiß, wo sie hinfahren. Am liebsten würde ich sie fragen, ob sie wirklich wissen, gegen wen sie da kämpfen sollen und welchen Sinn dieser Krieg hat.

In Jaroslawl versuche ich etwas runterzukommen. Und während ich das erste Mal in meinem Leben an der Wolga entlang spaziere und auf die wieder aufgebaute Mariä-Entschlafens-Kathedrale mit ihren goldenen Zwiebeltürmen schaue denke ich, was für eine großartige Kulturnation Russland ist und das sie etwas besseres verdient hat, als die aktuelle Regierung. Und dass man trotz der nun kommenden (und berechtigten) Sanktionen in Russland bleiben könnte. Ich hatte ja einiges vor zu bereisen: St. Petersburg, Kasan, das Wolgadelta bei Astrachan, die Solowezki-Inseln, um eben auch diese kulturell reiche Seite von Russland zu zeigen. Doch von Stunde zu Stunde zeigt sich, dass es das beste ist Russland schnellstmöglich zu verlassen. Nicht nur häufen sich aufgrund der Sanktionen die praktische Probleme, etwa beim Bezahlen und Geld abheben, auch wurden inzwischen viele Flugverbindungen eingestellt und ich glaube auch das unsere Visa wohl bald annulliert werden. Zudem könnte es bald zu einer innen- und wirtschaftspolitischen Implosion in Russland und einem Bank-Run kommen. Die nächsten Tage könnten also ungemütlich werden. Auch wäre es einfach zynisch im Land zu bleiben und „weiter zu machen“ als wäre nichts gewesen. Zudem habe ich auch von meinen Kolleginnen und Kollegen am Newsdesk von Zeit-Online gehört, dass sie meine Osteuropa-Kompetenz gerade sehr vermissen.

Der Kreml von Rostow Weliki mit Gebäuden aus dem 17. Jahrhundert
Der Kreml von Rostow Weliki mit Gebäuden aus dem 17. Jahrhundert

Trotz allem: Osteuropa bleibt im Fokus

Und damit komme ich auch zu einer persönlichen Seite: Denn es wird mir immer klarer, dass es sein könnte das große Teile des geografischen Raum mit dem ich seit einiger Zeit intensiv beschäftigte – im konkreten Russland, die Ukraine und Belarus – für die kommenden Jahre nicht bereisbar sein könnten. Ich frage mich ob es mir persönlich was bringt, sich weiter mit dieser Region überhaupt zu befassen. Ob es was bringt Russisch zu lernen, wenn die Sprache bald ähnlich gemieden werden könnte, wie Deutsch nach den Weltkriegen? Eigentlich war ich auch nach Moskau gegangen um mir dort Kontakte aufzubauen und die Sprache zu lernen, denn natürlich wäre es ein Traum eines Tages von dort als Korrespondent zu berichten. (Russland ist nun mal für den gesamten osteuropäischen Raum immer noch das Zentrum). Nun ist Osteuropa in allen Nachrichten an erster Stelle und ich kann diese Kompetenzen nicht umsetzen – ich sitze ohne Journalisten-Visum in Russland während bei Zeit-Online Kolleginnen und Kollegen für Liveblog-Nachtschichten gesucht werden. Auch im Hinblick auf meine journalistische Leidenschaft schmerzt mich das.

Doch ich werde mich weiter mit Osteuropa beschäftigen, mit Russland, mit der Ukraine und all den anderen Ländern dort. In dieser dunklen Zeit ist das sogar mehr nötig als je. Meine Zeit-Kollegin Alice Bota twitterte vor einigen Tagen, dass Osteuropa uns wohl noch auf Jahrzehnte intensiv beschäftigen wird und entsprechend Leute mit derartigen Kompetenzen in Redaktionen gesucht werden könnten.

Und ich merke ja, wie ich hier für Moskauer Auslandsstudierende aber auch für Bekannte in Berlin, die sich wenig mit der Region befassen, ein wichtiger Kontakt bin, der aufgrund seines Vorwissens die aktuelle Lage analysieren kann. (Obwohl ich mich nach anderthalb Jahren Master Osteuropastudien nicht zum Experten aufschwingen will!)

Ich werde nun also nach acht Wochen in Russland wieder nach Berlin zurückkehren. Umso mehr hoffe ich möglichst bald wieder nach Russland zu kommen. Und in die Ukraine, die ich spätestens bei meinem ersten (und leider bisher einzigen) Besuch 2019 doch sehr ins Herz geschlossen habe.

Russische Bürokratie

Bürokratie
Vielleicht sollte ich mir noch eine weitere Brieftasche holen für die ganzen Dokumente, die ich immer mitschleppen muss. Und einige kommen ja auch noch dazu.

„Und nicht vergessen, dass ihr euch innerhalb von sieben Tagen hier registrieren müsst“, ermahnte die Frau vom Migrationsbüro der HSE uns internationale Studierende zum gefühlt Hundertsten Mal. Bei der Überschreitung drohen uns empfindliche Geldstrafen und wir könnten ohne aktuellen Registration Slip nicht unser Visum verlängern. Zumindest letzteres bleibt uns deutschen Studierenden allerdings erspart, da wir aufgrund eines Abkommens der Schröder-Regierung gleich ein Multi-Entry-Visum für unseren gesamten Aufenthalt bekommen (wie ich das beantragt habe, werde ich hier mal auslassen). Doch zum Bürgeramt muss ich trotzdem.

So betrete ich in dichten Schneegestöber mit meiner Wohnungsinhaberin und ihren zwei kleinen Kindern das Bürgeramt, das sich nur wenige Minuten Fußweg entfernt befindet. Мой Документы steht über dem Gebäude. Innen drin ist alles modern und hell gestaltet, von der Wand lächelt uns ein Porträt des Moskauer Bürgermeisters Sergei Sobjanin an. Mitarbeiter in Uniformen, die eher an Kellner statt an Beamte erinnern, begrüßen uns freundlich und statt wie in Berlin wochenlang zu warten, bekommen wir gleich einen Termin. Und wenn wir hier mehr als 15 Minuten warten müssen, dürfen wir uns von der schicken Kaffeebar sogar einen Gratis-Kaffee holen. Doch dazu sollte es nicht kommen, denn jetzt schlägt die graue Bürokratie hinter der bunten Kulisse zu.

Wegen einem Schreibfehler alles nochmal ausfüllen

Zunächst heißt das Formulare ausfüllen. Viele Bürgerdienste sind in Russland inzwischen digitalisiert und man bräuchte eigentlich noch nicht mal ins Amt zu gehen. Nicht jedoch die Wohnsitzregistrierung. Meine Vermieterin hatte schon im Vorfeld alle Formular sorgfältig ausgefüllt – doch das war umsonst, denn seit Anfang diesen Jahres gibt es ein neues Formular. Und ich kann mich vorerst auch nur für 90 Tage anmelden. Also genau die Tage zählen und alles schnell noch einmal ausfüllen. Und da ist er schon der erste Schreibfehler – naja hoffentlich wird er übersehen.

Kurz darauf sitzen wir schon einer Sachbearbeiterin gegenüber, die irgendwie das Stereotyp einer seelenlosen Bürokratin zu erfüllen scheint. „Also wenn Sie nicht wissen, wo die Seriennummer des Passes steht, müssen Sie zum Migrationsamt gehen“, sagt sie mürrisch und betrachtet lange meinen Reisepass um ihn anschließend an eine Kollegin weiterzureichen. Und natürlich dürfen wir das Formular wegen dem einen Schreibfehler noch einmal ausfüllen – zum Glück aber nur die eine Seite. Aber dann habe ich endlich die Registrierung in der Hand doch die Bürokratie nimmt damit kein Ende.

Ein Kommilitone hat sich zu dem Übersichtsbild des International Office
seine eigenen Gedanken gemacht.

Ohne Chipkarte kommt man nicht ins Unigebäude

Weiter geht sie an der Uni. Die Higher School of Economics braucht Kopien von sämtlichen meiner Dokumente (Reisepass, Visa, Krankenversicherung, Migrationskarte, Registration Slip und Impfnachweis), erst dann bekomme ich meinen Studierendenausweis. Es ist schon ein feierlicher Moment den zu bekommen und sich in das Immatrikulationsbuch einzutragen. „Welcome at HSE“, sagt die Frau vom International Office und drückt mir das kleine blaue edel gestaltete Booklet in die Hand, das mich ein wenig an ein Parteibuch erinnert. Leider bringt mir dieses Студенческий Билет erst einmal wenig. Um die Uni-Gebäude betreten zu können, brauche ich eine Chipkarte. Denn anders als in Deutschland sind die Unigebäude in Russland nicht öffentlich zugänglich und man muss durch Drehkreuze gehen, um das Gebäude zu betreten. In meinen ersten Unitagen bedeutete das immer für mich, dass ich dem Sicherheitsmann (oder -frau) mit meinen paar Worten russisch erklären musste, warum ich in dieses Gebäude muss. Und er musste dann telefonieren und ach das nervte alles.

Doch nun habe ich nur noch eine letzte Hürde zu überqueren und die sitzt in einem muffigen Raum mit der Aufschrift HSE University Access Control Office. „Вещи на стул!“, sagt der Sicherheitsbeauftragte scharf und deutet auf einen Stuhl links. Ich habe das Gefühl, das der Mensch, der hier arbeitet auch hier wohnt: Im Hintergrund steht ein riesiger Kühlschrank auf dem Magneten von gefühlt all den Urlaubsreisen seines Lebens bappen. Daneben ein riesiger Holzschrank mit Akten und Nippes , sowie eine Mikrowelle und eine Kaffeemaschine. Irgendwie wirkt es sehr deutsch, doch hier wird nur russisch gesprochen. Immerhin ist das Schild das einen deutlich darauf hinweist nicht den hinteren Bereich des Raumes zu betreten auf Englisch. Der Mann sieht sich meinen Pass und mein Студенческий Билет an, fragt mich nach meiner Adresse, Telefonnummer und auch wie lange ich an der HSE studiere (und ich merke, dass sich meine bisher 10 Monate Russischunterricht langsam lohnen). Und dann macht er auch noch ein Foto auf dem man mir die Genervtheit über russische Bürokratie wohl deutlich ansieht.

Am Ende habe ich die Chipkarte und stecke sie so in mein Portmonee das ich nicht jeden Tag mein grimmiges Gesicht sehen muss, wenn ich in die Uni will. Jetzt muss ich nur noch herausfinden, wie ich die Drehkreuze bediene, denn das funktioniert in jedem Unigebäude anders. Apropos Uni: Was die Bürokratie der Kurswahl an der HSE betrifft – über die werde ich wohl nochmal an anderer Stelle berichten.

Das erste Mal auf dem Roten Platz

Blick über den Roten Platz im Winter

Vor meinem Aufbruch nach Moskau habe ich oft darüber nachgedacht, wie es wohl sein wird, das erste Mal auf dem Roten Platz zu stehen. Einen Platz, den wohl jeder zumindest von Nachrichtenbildern kennt und der auch sinnbildhaft für Russland und seine Geschichte steht. Würde ich wohl Moskauer Nächte summen, während ich zwischen GUM und Kremlmauer entlangspaziere?, dachte ich. Nein, das ist mir dann doch zu kitschig.

Aber am Tag nach meiner Ankunft habe ich mich dann am Abend aus meinem Quartier hier im östlichen Bezirk Novogireevo in die Metro gesetzt und bin nach Kitai-Gorod gefahren. Von dort sind es zehn Minuten bis zum Roten Platz. Leichtes Schneegestöber und vielleicht -5 Grad, also für Moskau um diese Zeit fast angenehm. Und ein bisschen stieg schon die Anspannung als ich in der Ferne schließlich die Kremlmauer sah.

Und dann wendete ich mich nach links und sah auch schon die Basiliuskathedrale. Irgendwie wirkte sie kleiner als auf all den Bildern die man kennt. Alle Gebäude wirken kleiner bis auf den Platz selbst, der wirkt riesig. Als ich dann über das schwarze zugeschneite Pflaster spazierte, war das schon ein komisches Gefühl. Irgendwie ist der Rote Platz ein unheimlicher Ort: Links an der Kremlmauer ein Friedhof, rechts am Nobelkaufhaus GUM der traditionelle Weihnachtsmarkt, von dem Folklore-Schlager und bunte Lichter herüberwallten. Auf der Höhe des Lenin-Mausoleums befand sich der Eingang zur traditionellen Eisbahn, die immer im Winter dort ist. Und so ging ich durch den langen Schlauch der diese beiden Welten trennte – Nekropole an der Kremlmauer und den Weihnachtsmarkt und fühlte, das diese Trennung auch ein altes und neues Russland darstellt. Auf der einen Seite die menschenleeren sozialistischen Artefakte die von grimmigen Soldaten bewacht werden und rechts der bunte Kapitalismus. Irgendwie steht sich (vielleicht gerade zur Winterzeit) beides kontrastrierend am Roten Platz gegenüber.

Und damit steht der Rote Platz vielleicht auch sinnbildlich für die diffuse Mischung zwischen alten Artefakten und Moderne, die im heutigen Russland zu sehen ist. An vielen Gebäuden und in den Metrostationen in Moskau finden sich noch Hammer-und-Sichel-Symbole. Doch drumherum ist alles modern, clean und auch digital.

Warum Russland?

Der Flieger nach Moskau
Der Flieger nach Moskau

„Was? Du traust dich nach Moskau?“, schrieb ein Bekannter auf Facebook, nachdem ich dort eine Anzeige für die Untermiete meiner Berliner Wohnung eingestellt habe. Ja, viele haben sich gefragt, warum ich gerade in diesen politisch unruhigen Zeiten nach Russland gehe. Und auch ich habe mich vor meiner Abreise immer wieder gefragt, ob es wirklich klug ist. Doch ich habe mich schließlich dafür entscheiden.

Vor einem Jahr, kurz nachdem ich meinen Master in Osteuropastudien angefangen hatte, entschied ich, dass mein Erasmus-Semester 2019 in Poznań nicht genug war und ich noch ein zweites Auslandssemester machen will. Und auch wenn unser Institut Partnerschaften mit Unis in der Ukraine, den Südkaukasus-Staaten oder Zentralasien hat, war für mich schnell klar, dass ich nach Russland will. Denn meiner Meinung nach ist Russland für den ganzen osteuropäischen Raum entscheidend. Wer die aktuellen Entwicklungen in der Ukraine, in Kasachstan, in Belarus oder anderen osteuropäischen Ländern verstehen will, muss sich mit Russland auseinandersetzen.

Mit Russland meine ich dabei explizit nicht nur die russische Regierung und ihre Politik – wie ich dazu stehe, dürfte vielen klar sein. Nein, es geht auch um die Menschen vor Ort. Ihre Geschichten, ihre Erfahrungen, ihr Alltag. Sie dürfen nicht mit der Politik ihrer Regierung gleichgesetzt werden. Ich habe viele Menschen mit russischen Familienhintergrund in meinem Bekanntenkreis, die es Leid sind, dass ihr Heimatland oft nur in bestimmten Schemata dargestellt wird. Denn Russland und seine Menschen sind mehr, als viele denken. (Und das meine ich, ohne in unkritische Klischeebilder verfallen zu wollen).

Natürlich kann ich verstehen, wenn Einzelne persönliche Bedenken haben, gerade nach Russland zu reisen. Am Ende muss so etwas jeder für sich entscheiden. Doch ich habe mich bewusst dafür entschieden, gerade auch in diesen schwierigen Zeiten nach Russland zu gehen und das Land und seine Menschen kennenzulernen. Meine Erfahrungen und Erlebnisse in den kommenden sechs Monaten will ich hier auf diesem Blog so gut es geht dokumentieren.

Die Betonung liegt dabei auf „so gut es geht“, denn da ich nur mit einem Studi-Visum im Land bin und nicht als akkreditierter Journalist muss ich mich mit vielen Äußerungen zur aktuellen Politik zurückhalten. Entsprechend wird es hier keine Berichte von regierungskritischen Demos oder Interviews mit Oppositionellen geben und auch bestimmte andere Geschichten werde ich nur in kleinem Kreis erzählen, wenn ich wieder in Berlin bin. Schließlich möchte ich gerne die ganzen sechs Monate im Land bleiben und danach auch wieder kommen können.

Ansonsten wird es hier aber sicher viele Anekdoten aus dem Moskauer Alltag und dem Unileben an der Higher School of Economics und auch meinen Reisen durch das Land geben. In diesem Sinne: Давай и Поехали!