Es gibt Daten, da weiß man noch Jahrzehnte später, was man an diesem Tag gemacht hat und die eigenen Kinder fragen einen, wie man diese erlebt. Denn diese Daten sind historische Zäsuren. Der 24. Februar 2022 ist ein solcher Tag – vielleicht werden ihn künftige Historikerinnen und Historiker als Ende einer Epoche sehen.
Und deshalb ist der Titel dieses Posts auch angelehnt an ein Buch, dass viele Osteuropa-Interessierte wohl kennen. Im folgenden möchte ich schildern, wie ich den 24. Februar erlebt habe und was dies für mich bedeutet.
Der 24. Februar in Moskau
Im Nachhinein bin ich froh an diesem Tag etwas später aufgewacht zu sein als sonst – am Vorabend saß ich noch bis spät am Laptop. Denn als ich nach dem Aufwachen die Pushmeldungen auf dem Handy sehe bin ich natürlich hellwach und mir ist auf einmal schlecht. Erst einmal lesen was in der vergangenen Nacht passiert ist – und begreifen. Dann ins Bad wanken. Normalität versuchen. Schnell frühstücken, obwohl man keinen Appetit hat. Ich versuche das Handy aus der Hand zu legen und schaffe es nicht. Erste Nachrichten erreichen mich, wie die Lage in Moskau ist. Nun, was soll ich sagen? Hier fallen keine Bomben vom Himmel. Ich schaue nach draußen: Unten fahren die Menschen normal zur Arbeit. Doch ein Freund von mir hat sofort begriffen, wie die Lage ist und was nun auch in Russland drohen könnte. Er will mir Geld senden, falls meine Bankkarte gesperrt wird. „Auch dass dich keiner einkassiert“, schreibt er mir noch.
Die folgenden Stunden bestehen vor allem aus Doomscrolling. Eigentlich hatte ich mir einiges vorgenommen für den Tag. Ich wollte ein Exposé für eine Hausarbeit schreiben und muss noch einen Text für meinen Russisch-Kurs schreiben. Ich sage mir auch innerlich „the show must go on“ – doch angesichts der Nachrichten aus der Ukraine schaffe ich es nicht. Auch in den Chatgruppen der internationalen Studierenden geht es hoch her. Vor allem ein möglicher (und wie ich finde berechtigter!) Ausschluss Russlands aus dem Swift-Abkommen und seine möglichen Folgen werden debattiert. Die Frage ist, wie lange kann man jetzt noch in Russland bleiben? Und kann man das eigentlich noch ernsthaft erwägen? Einige wollen trotz allem Parties feiern – wer das kritisiert, wird mit Putin-Memes ausgelacht.
Ich schicke meinem russischen Freund Ilja das Bild Apotheose des Krieges von Wassili Wassiljewitsch Wereschtschagin. Wir hatten es wenige Wochen zuvor in der Tretjakow-Galerie gesehen, wo wir uns durch Zufall kennengelernt haben. Der Maler hatte dieses Gemälde „allen großen Eroberern der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ gewidmet. Ich denke auch an Ilja der wie viele junge Russinnen und Russen keinen Krieg will – ob er nun wie geplant in Deutschland studieren kann (ich hatte ihm wenige Tage zuvor die Bewerbung für ein DAAD-Stipendium gegengelesen) ist mehr als fraglich.
Am Nachmittag halte ich es nicht länger am Schreibtisch aus und fahre ins Stadtzentrum. Ich habe am Abend dort noch einen Uni-Kurs, aber ich fahre etwas früher los. Das Ziel ist der Rote Platz. Ich will spüren, wie sich Moskau in diesem Moment anfühlt. Wie die Stimmung in der Stadt ist. Ich empfinde es als „beklemmende Normalität“. Klar, das Leben geht weiter, die Menschen sitzen in Cafés, machen Selfies vor der Basilius-Kathedrale und haben Spaß. Doch es liegt eine ganz merkwürdige Stimmung in der Stadt. Auf jeden Fall ist die Polizeipräsenz deutlich höher, als sie sonst schon ist. Polizeiwagen fahren umher und machen Ansagen, die ich nicht verstehe, doch die Menschen um mich herum scheint es nicht zu interessieren. Auf dem Manege-Platz und vor dem Bolschoi-Theater stehen Dutzende Gefangenentransporter. Kurz darauf erreichen mich Nachrichten, die uns internationale Studierende warnen, am Abend ins Stadtzentrum zu gehen. Es soll Demonstrationen geben.
Im Uni-Kurs selbst (in dem es ironischerweise darum geht, warum Russland handelt, wie es handelt und ob es einen Russian path gibt) kann ich mich nicht wirklich konzentrieren, immer wieder bin ich von den Nachrichten aus der Ukraine aber auch aus Moskau abgelenkt. Und ja ich höre von draußen Menschen „Нет войне“ (Kein Krieg) rufen. Aber die Proteste haben sich wieder kurz darauf gelegt (oder wurden gelegt?), und ich komme sicher mit der Metro nach Hause. Dort sehe ich auf Instagram viele Stories von meinen russischen Freundinnen und Freunden die den Krieg verurteilen – auf die Straße trauen sie sich aber wegen der Repressionen nicht.
Wie geht es jetzt weiter?
Am Freitag bin ich morgens auf einen schon länger geplanten Wochenendtrip in die rund 280 Kilometer nördlich von Moskau gelegene Stadt Jaroslawl gefahren. Am Sonntag ging es dann noch nach Rostow Weliki. Beides wunderbare historische Orte des sogenannten Goldenen Rings um Moskau, die ich jedem empfehlen würde, zu besuchen, wenn das irgendwann wieder möglich ist. Aber es ist schon merkwürdig: Am Bahnhof sehe ich eine Gruppe junger Soldaten mit schweren Gepäck – wer weiß, wo sie hinfahren. Am liebsten würde ich sie fragen, ob sie wirklich wissen, gegen wen sie da kämpfen sollen und welchen Sinn dieser Krieg hat.
In Jaroslawl versuche ich etwas runterzukommen. Und während ich das erste Mal in meinem Leben an der Wolga entlang spaziere und auf die wieder aufgebaute Mariä-Entschlafens-Kathedrale mit ihren goldenen Zwiebeltürmen schaue denke ich, was für eine großartige Kulturnation Russland ist und das sie etwas besseres verdient hat, als die aktuelle Regierung. Und dass man trotz der nun kommenden (und berechtigten) Sanktionen in Russland bleiben könnte. Ich hatte ja einiges vor zu bereisen: St. Petersburg, Kasan, das Wolgadelta bei Astrachan, die Solowezki-Inseln, um eben auch diese kulturell reiche Seite von Russland zu zeigen. Doch von Stunde zu Stunde zeigt sich, dass es das beste ist Russland schnellstmöglich zu verlassen. Nicht nur häufen sich aufgrund der Sanktionen die praktische Probleme, etwa beim Bezahlen und Geld abheben, auch wurden inzwischen viele Flugverbindungen eingestellt und ich glaube auch das unsere Visa wohl bald annulliert werden. Zudem könnte es bald zu einer innen- und wirtschaftspolitischen Implosion in Russland und einem Bank-Run kommen. Die nächsten Tage könnten also ungemütlich werden. Auch wäre es einfach zynisch im Land zu bleiben und „weiter zu machen“ als wäre nichts gewesen. Zudem habe ich auch von meinen Kolleginnen und Kollegen am Newsdesk von Zeit-Online gehört, dass sie meine Osteuropa-Kompetenz gerade sehr vermissen.
Trotz allem: Osteuropa bleibt im Fokus
Und damit komme ich auch zu einer persönlichen Seite: Denn es wird mir immer klarer, dass es sein könnte das große Teile des geografischen Raum mit dem ich seit einiger Zeit intensiv beschäftigte – im konkreten Russland, die Ukraine und Belarus – für die kommenden Jahre nicht bereisbar sein könnten. Ich frage mich ob es mir persönlich was bringt, sich weiter mit dieser Region überhaupt zu befassen. Ob es was bringt Russisch zu lernen, wenn die Sprache bald ähnlich gemieden werden könnte, wie Deutsch nach den Weltkriegen? Eigentlich war ich auch nach Moskau gegangen um mir dort Kontakte aufzubauen und die Sprache zu lernen, denn natürlich wäre es ein Traum eines Tages von dort als Korrespondent zu berichten. (Russland ist nun mal für den gesamten osteuropäischen Raum immer noch das Zentrum). Nun ist Osteuropa in allen Nachrichten an erster Stelle und ich kann diese Kompetenzen nicht umsetzen – ich sitze ohne Journalisten-Visum in Russland während bei Zeit-Online Kolleginnen und Kollegen für Liveblog-Nachtschichten gesucht werden. Auch im Hinblick auf meine journalistische Leidenschaft schmerzt mich das.
Doch ich werde mich weiter mit Osteuropa beschäftigen, mit Russland, mit der Ukraine und all den anderen Ländern dort. In dieser dunklen Zeit ist das sogar mehr nötig als je. Meine Zeit-Kollegin Alice Bota twitterte vor einigen Tagen, dass Osteuropa uns wohl noch auf Jahrzehnte intensiv beschäftigen wird und entsprechend Leute mit derartigen Kompetenzen in Redaktionen gesucht werden könnten.
Und ich merke ja, wie ich hier für Moskauer Auslandsstudierende aber auch für Bekannte in Berlin, die sich wenig mit der Region befassen, ein wichtiger Kontakt bin, der aufgrund seines Vorwissens die aktuelle Lage analysieren kann. (Obwohl ich mich nach anderthalb Jahren Master Osteuropastudien nicht zum Experten aufschwingen will!)
Ich werde nun also nach acht Wochen in Russland wieder nach Berlin zurückkehren. Umso mehr hoffe ich möglichst bald wieder nach Russland zu kommen. Und in die Ukraine, die ich spätestens bei meinem ersten (und leider bisher einzigen) Besuch 2019 doch sehr ins Herz geschlossen habe.
Toller Bericht,
Russisch vor Ort lernen ist sicherlich besser, aber in D haben wir auch viele Muttersprachler. Daher sei weniger Traurig, aber komm gut zurück. Ich freu mich bald auf mehr!